
Immer mehr Eltern glauben an das Konzept der geschlechtsoffenen Erziehung. Die Journalistin Anne Dittmann auch. Aber einfach ist es nicht.
Als mein Sohn vier Jahre alt war, entdeckte er den roten Nagellack an meinen Fingernägeln, befühlte und bestaunte ihn. „Darf ich das auch haben?“, fragte er mich. Er durfte. Ich erinnere mich, wie stolz und fröhlich er war, als wir unsere bunten Finger aneinanderhielten. Wir waren gleich. Am nächsten Tag sagte ein Junge aus seiner Gruppe: „Nagellack ist nur für Mädchen!“ Wir redeten auf dem Heimweg darüber, doch so richtig Lust hatte er auf den Nagellack danach nicht mehr. Und ich fragte mich: Wenn Mädchen heute alles sein können, warum Jungen nicht auch?
Theorie vs. Realität
In der Theorie nicken jetzt bestimmt viele. Die Realität sieht aber oft so aus: Viele Eltern erziehen ihre Söhne auch heute noch mit veralteten Vorstellungen davon, wie ein „richtiger Junge“ sein soll: rational, stark und durchsetzungsfähig. Jungen büßen auch heute noch an Beziehungsfähigkeit ein, wenn Eltern und besonders Väter von ihnen schlicht nicht erwarten, etwa ihre Freund:innen zu trösten, sie zu umarmen oder ihre Hand zu halten; wenn Väter es ihren Söhnen nicht vorleben, die Geburtstagstische für ihre Kolleg:innen vorzubereiten, sich zu entschuldigen, Kuchen für den Kitabastelnachmittag zu backen (und nicht von der Partnerin backen zu lassen) oder besonders sanftmütig, umsorgend oder gar verletzlich zu sein. Viele Jungen lernen zudem immer noch, dass sie besser nicht weinen, dafür aber ihre Wut nach außen richten sollten – so werden sie nicht als „Weichei“ abgewertet, sondern bekommen sogar noch Verständnis, weil die Wut „testosteronbedingt in ihrer Natur“ läge. Hallo, selbsterfüllende Prophezeiung!
Dabei sind Jungs doch gar nicht alle gleich stark, gleich durchsetzungsfähig und gleich testosterongetrieben – sondern alle einzigartig! Absurd, dass man das überhaupt extra erwähnen muss. Wenn wir sie aber nur auf ihre Körpermerkmale und angeblich typischen Jungseigenschaften reduzieren, begrenzen wir sie in ihrer persönlichen Entfaltung.
Daher glauben immer mehr Eltern an das Konzept der geschlechtsneutralen oder geschlechtsoffenen Erziehung. Auch ich. Damit sollen Kinder den Raum bekommen, sich selbst zu entdecken und zu entfalten, und zwar ohne die ausgedachten Glitzer- und Traktorkategorien. Dabei nimmt diese Erziehung Kindern nichts weg, vielmehr kommen mehr Angebote hinzu: Traktoren gesellen sich einfach zum Glitzer und andersherum.
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Das Schwierigste ist dabei wohl, dass Eltern immer wieder selbst daran denken müssen, ihren Kindern sowohl die Puppe als auch das Fußballspielen nicht vorzuenthalten, weil sie etwa erwarten, dass gewisse Dinge ihren Kindern „sowieso nicht gefallen“. Dabei ist vieles davon nur in unserem Kopf: In Situationen, in denen ich vielleicht kurz perplex bin über das Verhalten meines Sohnes, weil er sich nicht „geschlechtstypisch“ verhält, hilft es, mich selbst mit der Frage zu reflektieren: Würde mir dieses Verhalten auch auffallen, wenn mein Kind ein anderes Geschlecht hätte? Da kommen unsere eigenen Schubladen ganz schön fies zum Vorschein. Und müssen immer wieder ordentlich entrümpelt oder am besten gleich neu sortiert werden.
Wenn wir als Eltern zudem merken, dass unsere Söhne nur schwer Zugang zu ihren Gefühlen finden oder die eigene Verletzlichkeit nicht zeigen wollen, weil es „uncool“ ist, können wir spielerisch üben. Mit meinem Sohn im Grundschulalter führe ich etwa ein Gefühlstagebuch. Wir schreiben in ein oder zwei Sätzen auf, wie der Tag war und kreuzen dann aus etwa zwanzig Gefühlen diejenigen an, die er durchlebt hat. Eine Sache von fünf Minuten. Und wenn er dann auch mal Gefühle wie Scham oder Angst, Mut oder Geliebt ankreuzt, erzählt er mir auch von den Erlebnissen, die diese Gefühle in ihm ausgelöst haben – seitdem erfahre ich ganz nebenbei viel mehr von seinen Tagen als zuvor.
Eltern zu sein, heißt ja oft: atmen, reden, verstehen.
Bei Teenagern wird es natürlich oft komplizierter: Zieht er sich zurück, weil er seine Ruhe genießt – oder weil er Probleme wälzt? Wird er dünner, weil er so viel Spaß an Sport hat – oder trainiert er, um abzunehmen? Was ist Entfaltung und was Druck? Klarer wird die Sache, wenn er plötzlich Andrew Tate als Vorbild nennt und zur „eigenen, männlichen Abhärtung“ auf dem Boden statt im Bett schläft. Dann ist elterliches Feingefühl gefragt. Eltern zu sein, heißt ja oft: atmen, reden, verstehen. Was genau interessiert ihn also daran? Welches Bedürfnis steckt dahinter? Kritisch nachfragen, ja – aber auch wertschätzend. Diese Fragen können manchmal noch über Wochen in unseren Söhnen gären und ihnen helfen, sich eine umfassende Meinung zu bilden.
Zwei Grundregeln geschlechtsoffener Erziehung
Am Ende muss geschlechtsoffene Erziehung gar nicht so kompliziert sein. Für mich als Elternteil gibt es da zwei Grundregeln:Erstens unsere Kinder nicht ständig mit „dem anderen Geschlecht“ verkuppeln und es stattdessen als von sich aus vollständigen Menschen „ohne fehlende zweite Hälfte“ begreifen. Und zweitens: Keine bestimmte Sexualität des Kindes voraussetzen, sondern auch mal Auswege aus diesen Zuschreibungen anbieten. Wie meine ich das: Ich habe zum Beispiel die Pronomen „er/ihn“ für mein Kind genutzt und gleichzeitig immer mal wieder mit ihm darüber gesprochen, dass manche Kinder früh merken, dass diese Zuschreibungen gar nicht auf sie zutreffen und wir da immer offen drüber reden können. Und nein, damit habe ich meinen Sohn nicht „verwirrt“. Im Gegenteil: Er konnte mir im Alter von sechs Jahren sehr klar sagen, dass er ein Junge ist und auch ein Junge bleiben möchte. War die weitere Erziehung dann klar auf Junge ausgerichtet? Natürlich nicht.
Am Ende ist es doch so: Wir sind nicht alle gleich, sondern alle einzigartig. Wir Eltern sollten diese Einzigartigkeit fördern und unsere Kinder dabei begleiten, diese zu entdecken und zu entfalten. Ob wir es am Ende richtig gemacht haben, erfahren wir früher oder später sowieso von ihnen selbst. Und dann brauchen vielleicht eher wir das Gefühlstagebuch.
Anne Dittmann schreibt Im Essayband „Unlearn Patriarchy 2“ (352 S., 23 Euro, Ullstein) darüber, wie genderneutrale Erziehung im Alltag gelingen kann.